Das Mitgefühl der Bodhisattvas und Buddhas

Als erstes müssen wir die Unterschiede zwischen dem Wort „Liebe“ und „Barmherzigkeit“ definieren. Wo liegen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten? Wenn man von der Liebe spricht, grenzt man somit die Beziehung zwischen den Menschen, zwischen Mann und Frau oder Mensch und Tier oder Mensch zu den Dingen in der Umgebung ein. Liebe beinhaltet immer einen egoistischen Geist und wird von dem Gegenüber beeinflusst, den man liebt. Wenn jemand nicht geliebt wird, wird das Ego des Mannes oder der Frau verletzt; folglich ist es nicht mehr Liebe. Aus dieser Beziehung könnte möglicherweise sogar Hass entstehen. Wenn ein Mann eine Frau liebt, bedeutet dies, dass er sie für sich alleine gewinnen will; die Frau dagegen neigt dazu, sich an den Mann zu lehnen. Wenn der Lebensgefährte der Frau nicht mehr das Gefühl der Anlehnung geben kann, so wird die Liebe von Tag zu Tag an Distanz zunehmen und verblassen; die Liebe ist folglich nicht mehr leidenschaftlich wie am Anfang.

Wie sieht es mit Mitgefühl aus? Mitgefühl gibt es und existiert nur bei Lebewesen mit übergroßem Geist, zum Wohle Anderer und nicht egoistisch für sich selbst. Dieser Mensch könnte ein Gelehrter sein, der sein Leben opfert und hart arbeitet, um die Menschheit zu retten; sie legen keinen großen Wert auf ihr eigenes Leben. Zu ihnen zählen z.B.Gelehrter Pasteur, Marie Currie, Robert Koch etc. Sie haben eine Weitsicht und möchten viele Menschen von ihrem Leid der Krankheiten befreien. Sie haben möglicherweise den Bodhisattvaweg zum Wohle aller Lebewesen praktiziert. Mit ihrem unendlichen Mitgefühl möchten sie die Menschheit vom Leid der Krankheiten befreien bevor sie in das Nirwana eingehen. Laut der Mahayana-Lehre, brauchen die Praktizierenden sehr viel Zeit, um den Bodhisattvaweg zu beschreiten, bis sie ihre Gelübde vervollständigen können.

Im Folgenden soll die Barmherzigkeit von Avalokiteshvara Bodhisattva und Ksitigarbha Bodhisattva mit Beispielen verdeutlicht werden. In Indien und Tibet hat der Avalokiteshvara Bodhisattva die Gestalt eines Mannes mit Tausend Augen und Händen bzw. vielen Augen und Händen, 32 Verkörperungsformen und seine 12 Gelübde Lebewesen zu helfen. Doch als der Mahayana-Buddhismus nach China, Vietnam, Korea und Japan verbreitet wurde, nimmt der Avalokiteshvara Bodhisattva die weibliche Gestalt an. Verkörpert die weibliche Gestalt etwa das Mitgefühl deutlicher als die männliche Form? Deshalb sieht man in diesen Ländern sehr selten den Avalokiteshvara Bodhisattva in der männlichen Gestalt. Im 25. Kapitel des Lotussutras lehrte Shakyamuni Buddha: „Dieser Bodhisattva kann mit seinen 32 Verkörperungsformen sein Mitgefühl zu allen fühlenden Wesen erweisen und ihnen zu Hilfe kommen. Diese Tugenden entsprechen eben dem Namen dieser Bodhisattva „Der, der die Welt erhört“. Dies bedeutet, er hört die Leidenstöne der Lebewesen und eilt ihnen zu Hilfe. Folglich bedeutet das, dass nur das Mitgefühl, die Barmherzigkeit diese Taten realisierbar machen; die Liebe dagegen ist egoistisch und schließt nicht alle Lebewesen mit ein.

In China, Japan, Korea und Vietnam wird der Avalokiteshvara in 500 verschiedenen Gestalten dargestellt, um die unzähligen Verkörperungen dieser Bodhisattva mit seinen Tausend Augen und Händen zu symbolisieren. Unabhängig von den 10 Himmelsrichtungen würde der Avalokiteshvara Bodhisattva mit seinem unendlichen Mitgefühl keine Unterschiede von Orte oder Herkunft des Hilfesuchenden machen und ihnen Hilfe leisten.

In der tibetischen buddhistischen Tradition kennen wir die Inkarnation des 14. Dalai Lama. Wenn er nicht der Avalokiteshvara Bodhisattva wäre, würde niemand dieses große Mitgefühl wie er verkörpern können. Überall wo er hingeht und Menschen begegnet, sagt er: „Ich bin nur ein einfacher buddhistischer Mönch“. Die Einfachheit drückt sich in seinem Lächeln, Blicken und dem mitfühlenden Charakter zu allen Tibetern und der gesamten Menschheit auf der ganzen Welt aus. Sie nennen ihn heute ein Bodhisattva mit dem größten Mitgefühl zu allen Lebewesen und steht über allen lebenden geistlichen Religionsoberhäupten auf dieser Welt. Das ist ein deutlicher Beweis dafür, dass das Mitgefühl, die Barmherzigkeit gegenüber anderen Lebewesen einen unvergleichlichen geistigen Wert hat, den man nicht mit materiellen Werten messen kann.

Anhänger des chinesischen, vietnamesischen, koreanischen und japanischen Buddhismus haben die Gewohnheit, den Ksitigarbha Bodhisattva zu verehren und die Ksitigarbha-Sutra zu rezitieren. Es wurde erzählt, dass diese Sutra von Buddha an die Königin Maya, seine Mutter, im Trayastrimsa(S.) Tavatimsa(P.) Himmel während einer dreimonatigen Klausurzeit gesprochen wurde. Buddha war zu dieser Zeit nicht auf der Samsarawelt anwesend. Als er dann mithilfe seiner Zauberkräfte zurückkehrte, brachte ihm der König Udayana König eine Buddhastatue und präsentierte sie vor ihm. Laut der Samyuktagama-Sutrensammlung hatte bereits Vimalakirti vor der Bhikkhuni Utpalavarna(S.),Uppalavanna(P.) Buddha empfangen. Heute verehrt jedes Volk den Ksitigarbha Bodhisattva unterschiedlich, kein Volk gleicht dem Anderen. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten und zwar: in seinen zwei Händen hält er ein wertvolles kugelförmiges Juwel und einen Khakkhara (Pilgerstab). Diese beiden Symbole verdeutlichen die unermessliche Kraft des Ksitigarbha Bodhisattva in der Hölle, dortige Lebewesen zu helfen. Sein Gelübde lautet: „Nur wenn keine Lebewesen mehr in der Hölle verweilen, erst dann möchte ich die Buddhaschaft erlangen“. Anhand dieses Gelübdes kann man erkennen wie groß sein Mitgefühl ist. Nur Mitgefühl kann jemanden dazu bringen, sein Leben für die anderen Lebewesen zu opfern und sie vom Leid befreien zu wollen.

Im „Sutra der acht großen Erleuchtungen Buddhas und Bodhisattvas“ steht: „Alle Bodhisattvas nehmen den Platz anderer Lebewesen ein und tragen deren Leid; unabhängig davon wie schwer ihr Karma ist. Sie gleichen den Bootsruderern, die die Gäste über den Fluss bringen; sie selber leben auf diesem Boot mit dem Leben und Tod; sie hoffen nur, dass die Lebewesen vom Leid der Geburt und Tod befreit werden können. Erst dann wollen sie ins Nirwana eingehen.

Buddha hat auch gelehrt: „wenn man Hass mit Hass bekämpft, wird nur noch mehr Hass verursacht; nur wenn man Hass durch Barmherzigkeit ersetzt, so wird Hass vernichtet“. Dies bedeutet, dass man nur mithilfe von Mitgefühl das Feuer des Hasses vernichten kann. Versucht man mit Zorn gegen Hass vorzugehen, wird das Feuer des Hasses umso mehr entfacht und heftiger sein. Das Mitgefühl und die Barmherzigkeit der Buddhas und Bodhisattvas sind wie die reinen Heilwassertropfen, die an den Zweigen von Avalokiteshvara Bodhisattva hängen. Mit diesem Heilwasser hat er bereits unzähliges Leid und geistige Befleckungen auf dieser Welt bereinigt. Die weltliche Liebe steckt voller Enttäuschungen und ist von Leid in bestimmten Situationen geprägt. Die Barmherzigkeit der Buddhas und Bodhisattvas dagegen ist grenzenlos und unterscheidet nicht zwischen Hautfarbe, Rassen oder Herkunft. Die grenzenlose Barmherzigkeit der Bodhisattvas wurde anhand der Taten von beispielsweise Avalokiteshvara und Ksitigarbha Bodhisattvas veranschaulicht.

Ich habe die Zeitschrift „Tibet und Buddhismus“ von der ersten Ausgabe an bis heute gelesen und hatte auch die Ehre gehabt, Geshe Thubten Ngawang im Jahre 1978 zum ersten Mal zu begegnen. Nun ist er bereits in das Reine Land übergegangen. Das tibetische Zentrum in Hamburg und das Zentrum Semkye Ling in Schneverdingen haben seit ihrer Gründung sehr viel barmherziges beigetragen, um viele Deutschen und Buddhismusanhängern den Weg zur Leidensbefreiung zu unterweisen; das sind alles wunderbare Bilder, die man vor 1970 in Deutschland nur selten sehen konnte.

Auch unsere Pagode Vien Giac in Hannover hatte zwei Male – am 18.06.1995 und 20.09.2013 – die große Ehre gehabt, Seine Heiligkeit, den 14. Dalai Lama, in unserem buddhistischen Zentrum zu empfangen und die Unterweisung in die Buddhalehre zu erhalten. Das wiederum sind die schönsten Bilder von Mitgefühl Seiner Heiligkeit gegenüber den vietnamesischen und deutschen Buddhisten, die in diesem Land leben.

Auch ich persönlich hatte viele gute karmische Bedingungen gehabt, seine Heiligkeit viele Male begegnen zu können z.B. in Delhi (Indien), Hamburg, Schneverdingen, Hannover und Frankfurt (Deutschland). Ich habe auch viele Bücher von ihm gelesen wie z.B. „Mein Leben und mein Volk“, „Freedom in Exile“, oder erst vor kurzem erschienen „Mein Sohn, der 14. Dalai Lama“, welches von seiner Mutter erzählt und von seinem Neffen verfasst wurde. Das sind alles wundervolle Werke, die Seine Heiligkeit selbst geschrieben hat. Die herzlichsten Lehrworte beinhalten Barmherzigkeit und Weisheit. Viele Hörer und Leser sind beeindruckt und sprechen ihr Lob aus; es gibt nicht sehr viele Menschen auf dieser Welt, die großes Mitgefühl besitzen. 1949 haben chinesische Kommunisten Tibet, seine Heimat, erobert und 1959 hatte er sein Land verlassen und offiziell in Dharamsala, Indien, Asyl gesucht. Den Chinesen gegenüber hat Seine Heiligkeit stets versucht mit Mitgefühl zu betrachten; wie wir wissen, hat er noch nie mit Zorn und Wut die Chinesen konfrontiert. Wir können folglich zusammenfassen: „Im Verlust gibt es immer den Gewinn“ und „Im Gewinn existiert immer der Verlust“. Der Lehre des bedingten Entstehens zufolge lehrte Buddha: „Wenn dieses entsteht, so entsteht auch jenes. Wenn eines vergeht, vergeht auch das andere. Entstehen und Vergehen sind die Lehre von der Vergänglichkeit, eines der drei Dharmasiegel. Unter den Weisheitsaugen und Barmherzigkeit der Bodhisattvas sind das Kommen und Gehen, Entstehen und Vergehen, Zunehmen und Abnehmen, etc. alles dualistische Verhältnisse im Leben. Nur einzig das Mitgefühl wird lange in dieser Welt bleiben. Es gibt ein bekanntes Gedicht aus dem Mittelvietnam:

Hundert Jahre davor existierte ich nicht
Hundert Jahre später ist diese Existenz auch nicht real
Das Leben voller Existenz und Veränderungen
Aus hundert Jahre verbleibt einzig das Mitgefühl.

Mitgefühl ist genau das Motto für diese Ausgabe der Zeitschrift „Tibet und Buddhismus“. Ich freue mich sehr, mit diesem kurzen Artikel einen Beitrag zu Ihrer Zeitschrift leisten zu können und hoffe, dass unsere Zusammenarbeit von Tag zu Tag noch enger wird. Auf diese Weise können noch mehr Gemeinsamkeiten zwischen dem vietnamesischen, deutschen und tibetischen Buddhismus entdeckt werden.

Verfasst am 17.03.2016, auf der Zugfahrt von Ravensburg nach Hannover. Venerable Thich Hanh Gioi, Abt der Vien Giac Pagode, Doktor in Philosophie, hat es von der vietnamesischen Sprache ins Deutsche übertragen.